Manierismus
(ital. maniera: Stil, Manier) bezeichnet in der Kunstgeschichte die Übergangsform zwischen der Renaissance und dem Barock in Malerei, Baukunst, Plastik, Musik und Literatur. Der Manierismus umfasst in Italien etwa die Zeit von 1515–1600, in Frankreich etwa 1550–1610, in Deutschland etwa 1560–1610 mit Ausläufern (Schlesische Dichterschulen) bis etwa 1680. In der Literatur dauert der Manierismus allgemein bis etwa 1630 an.
Der Ausdruck ‚Manierismus‘ wurde von Giorgio Vasari eingeführt, um den Stil des späten Michelangelo zu charakterisieren, und wurde auf dessen Nachfolger verallgemeinert.
Neben der kunstgeschichtlichen Bedeutung wird der Begriff auch universell benutzt und bezeichnet dann eine Handlung oder Haltung, die als übertrieben pathetisch oder schwülstig wirkt.
STILMERKMALE UND GEISTESGESCHICHTE
Allgemein ist der Manierismus gekennzeichnet durch eine Abkehr von den harmonischen und ausgewogenen Kompositionen der Hochrenaissance in einer Zeit des Umbruchs, die zu einer gesuchten, gezierten, kapriziösen und spannungsgeladenen Manier führte, deren allegorische und enigmatische Darstellungen nur von eingeweihten Kennern aristokratischer Kreise verstanden werden sollten. In der Bildhauerei ist die Figura Serpentinata (s. Giambolognas "Raub der Sabinerin" in Florenz) charakteristisch für den Manierismus.
In der Literatur ist ein Hauptmerkmal des Manierismus der Schwulst. Nach G. R. Hocke sind Anagramm und Akronym, Epigramm und Oxymoron die typischen Stilmittel manieristischer Sprach-Alchemie in der Literatur.
In der Landschaftsarchitektur drückt sich die Liebe des Manierismus für das Groteske und Überraschende durch Grotten und Wasserspiele aus. Deren Tricktechnik inspirierte schließlich René Descartes zu seiner Theorie des menschlichen Automaten.
In der Architektur drückt sich der Manierismus durch die zaghafte Auflösung der Ordnungssysteme der Renaissance aus. Sie wurden im Großen und Ganzen zwar beibehalten, aber mit kleinen Widersprüchen angefüllt, in dem beispielsweise der Abschlußstein über einem Torbogen, der ursprünglich den Kraftabschluß im Zentrum versinnbildlichen soll, aus seiner sinnvollen Position gerückt wurde, oder indem die traditionellen und aus der Statik abgeleiteten Verbindungen der Fassadenelemente aufgelöst wurden.
Obgleich der Manierismus sich parallel zur Spätrenaissance Michelangelos, da Vincis und Raffaels entwickelt hatte, fällt seine Entstehungszeit mit politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen in Italien und Europa zusammen: Neu entstandene, ehedem bürgerliche Adelsfamilien (Medici) kamen in den alten Republiken (Florenz) an die Macht; der für Italien wichtige Mittelmeerhandel verlor nach der Wiederentdeckung Amerikas deutlich an Bedeutung, das habsburgische Spanien stieg zur Weltmacht auf, und ausgehend von Deutschland gestalteten Reformation und Gegenreformation ganz Europa um. 1527 eskalierte die Situation, als spanische, italienische und deutsche Söldner in habsburgischen Diensten Rom überfielen, plünderten und den Papst Klemens VII. gefangen setzten (Sacco di Roma). Unter dem Eindruck dieser Ereignisse kamen die manieristischen Künstler zu dem Schluss, dass das Programm der Renaissance, die Schönheit der Natur durch die Kunst zu verherrlichen, verfehlt und dass stattdessen die Natur durch die Kunst zu überwinden und zu erlösen sei. Dabei haben auch neuplatonische, gnostische und alchemistische Gedanken eine Rolle gespielt.
Während die Renaissance noch eine hauptsächlich italienische Kulturleistung gewesen ist (die indes ins übrige Europa exportiert wurde), war der Manierismus die vielleicht erste europäische Kunstbewegung überhaupt. Vor allem Flamen (Giambologna, Stradanus) zogen nach Italien, um dort zu lernen und zu wirken, wobei sie ihre Kunstauffassungen mitbrachten und die Spätrenaissance bereicherten. Eine wichtige Rolle spielten Holzschnitte, später auch Kupferstiche, die in ganz Europa zirkulierten. Insbesondere die Werke Dürers wurden so in Italien bekannt gemacht und aufgegriffen.
In der neueren Zeit hat Gustav René Hocke (1908 - 1985) in seinem Werk: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst (1957) versucht, den Begriff des Manierismus auf ein sowohl stilistisch als auch epochenmäßig umfassenderes Phänomen anzuwenden, nämlich das des dezentrierten Subjekts der Moderne. Damit sei Manierismus gewissermaßen die Gegenströmung zu Klassik. Er macht darauf aufmerksam, dass die manieristische Kunst in einzelnen Lebenswerken ununterbrochen bis zur Gegenwart fortexistiert, unter anderem in Werken von Fabrizio Clerici (1913 - 1993) und Fabius von Gugel (1910 - 2000).
BAUKUNST UND PLASTIK
Italien
In Italien ist neben Rom Oberitalien mit den Städten Florenz, Mantua, Vicenza und Venedig das Zentrum des Manierismus.
Eines der ersten manieristischen Bauwerke sind Vasaris Uffizien in Florenz.
Der Palazzo del Te in Mantua, die von Vignola gebaute Villa Farnese in Caprarola und der von Ammanati umgebaute Palazzo Pitti in Florenz sind repräsentative Herrschaftssitze im Stil des Manierismus.
Frankreich
In Frankreich sticht vor allen Dingen die Schule von Fontainebleau hervor.
Deutschland, Österreich und Böhmen
Bedeutendstes Zentrum des Manierismus in Deutschland ist München. Der Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses ist ein wichtiges Bauwerk des deutschen Manierismus.
Ein ungewöhnliches architektonisches Zeugnis des Manierismus in Norddeutschland ist die Innenausstattung der Dorfkirche in Osterwohle (Altmark), die 1607 bis 1621 von einem unbekannten Künstler angefertigt wurde.
In Österreich gilt Salzburg mit dem Schloss Hellbrunn und seinen Gartenanlagen und Wasserspielen als Beispiel des späten Manierismus auf der Schwelle zum Frühbarock. Als eine Hochburg des europäischen Manierismus gilt Prag zur Zeit Kaiser Rudolfs II.
Ostseeraum
Das Zentrum des baltischen Manierismus ist Danzig. Hier sind insbesondere die Bürgerhäuser am Langen Markt, der Artushof Danzig und das Rathaus hervorzuheben. Ein weiteres wichtiges osteuropäisches Zentrum des Manierismus ist Lemberg, das vor allem durch die Bürgerhäuser am Marktplatz und die Kapelle der Boimów manieristisch gekennzeichnet ist.
MALEREI UND GRAPHIK
Nach Vasari sind Architektur und Malerei Kinder der Zeichenkunst. Das macht sich in der Malerei durch die Bevorzugung der Linie vor der Fläche bemerkbar. Proportionen werden stark verzerrt (lange Körper, Beine, Hälse: s. Parmigianinos Madonna mit dem langen Hals) und Körper posieren in den unmöglichsten, dynamischen Verrenkungen (s. El Grecos Laookon: [1]); die Perspektive wird gezielt missachtet (s. Parmigianinos Selbstbildnis). Personen werden oft erotisch oder abstossend hässlich dargestellt. Weitere Stilelemente sind grelle und krasse Farbunterschiede (wie bei Rosso Fiorentinos Kreuzabnahme: [2]), die z.T. schon expressionistisch anmuten, und Vexierbilder (wie bei Arcimbaldo: [3]) sowie Anamorphosen.
Die innovativen Stilelemente des Manierismus wurden vom Barock aufgegriffen, was Frühbarock und Manierismus leicht verwechselbar macht. Dennoch gibt es einen großen programmatischen Unterschied: Der Manierismus wendet sich an den Verstand und liebt intellektuelle Spielereien und Anspielungen; der Barock, als Kunstform der Gegenreformation, wendet sich an das (religiöse) Gefühl und versucht zu überreden, nicht zu überzeugen. Manieristische Stilexperimente sind Vorbilder für den Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Kubismus.
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